Seiten

Montag, 31. Mai 2010

DER BESCHÜTZER

Eine Bekannte hatte Besuch von Freunden aus Europa erhalten. Es war deren erste Reise nach Südafrika. Man freute sich über das Wiedersehen, tauschte Neuigkeiten aus, berichtete von den Freunden und Verwandten zu Hause. Und sehr bald war die Situation des Gastlandes Mittelpunkt der Gespräche. Man erörterte wirtschaftliche und politische Aspekte und gab seinen Bedenken und Hoffnungen Ausdruck.


Im Verlauf des zweiten oder dritten Tages entstand eine lebhafte Diskussion über die Rolle der Frau im sog. “Neuen Südafrika.”

“Immerhin,” resümierte ein wohlinformierter Herr, “ resultiert die neue Ordnung in einer deutlichen Verbesserung der traditionellen Position der Frau. In der konservativen afrikanischen Kultur werden ja alle Arbeiten von den Frauen verrichtet. Sie kümmern sich um die Kinder, besorgen das Brennholz, kochen, brauen Bier, bauen die Hütten und bestellen das Feld.   Seit der Entstehung des Neuen Südafrika ist hier eine deutliche Veränderung zu beobachten.  Die Rolle der Frau wird neu definiert...”

“Das habe ich aber gestern ganz anders erlebt!” rief eine wortführende Besucherin. “Ich stand in einem Geschäft an der Kasse. Der schwarze Kassierer behandelte die ebenfalls schwarze Kundin vor mir sehr unfreundlich.  Dabei hatte sie, dem Tonfall nach, nur eine Frage gestellt!  Ich verstehe ja die Sprache nicht - aber die Situation war ziemlich eindeutig.”

“Das mag schon sein,” stimmte ihr meine Bekannt Nicky friedfertig zu. “Aber es spricht durchaus einiges dafür, dass in der Bevölkerung ein Umdenken begonnen hat.  Viele Berufe sind mittlerweile offen für Frauen, und werden von diesen auch gerne gewählt.  Schwarze Frauen haben in unserer heutigen Gesellschaft einiges erreicht; sie sind aus Wirtschaft und dem Bankwesen nicht mehr wegzudenken....unsere parlamentarischen Vertreterinnen nicht zu vergessen....”

Einige Tage später unternahm die muntere kleine Gesellschaft einen Ausflug mit dem Ziel, Land und Leute etwas besser kennenzulernen.  Nicky steuerte ihren vollbesetzten Geländewagen über schmale Landstraßen. Man war guter Dinge und machte sich gegenseitig auf Sehenswertes und Bemerkenswertes aufmerksam.

In einiger Entfernung entdeckte man zwei kleine Punkte, die sich vorwärtsbewegten. Beim Näherkommen wurden zwei Fußgänger erkannt, ein Mann und eine Frau, die entlang der Straße unterwegs waren.  Die Frau balancierte auf ihrem Kopf ein ansehnliches Bündel Brennholz; aus einem stramm gebundenen Tuch auf ihrem Rücken schaute der Kopf eines Kleinkindes - und was in ihrer verblichenen Plastiktüte steckte, hatte offensichtlich auch einiges an Gewicht vorzuweisen. Der Mann, der stolz und aufrecht voranschritt, trug als einzigen Balast ein kleines Stöckchen, mit dem er hin und wieder den ergrauten Kopf kratzte.

Ein mehrstimmiger Entsetzensschrei der  Damen. “Anhalten!” gebot eine von ihnen . Nicky hielt den Wagen an.  “Das sind ja noch immer Zustände wie im Mittelalter..” empörte sich eine Freundin.  “Mittelalter?? Nein - tiefes, hoffnungsloses Afrika!” verbesserte eine zweite.


Inzwischen waren die Fussgänger nähergekommen   “Frag ihn, warum er ihr nicht tragen hilft!” wurde Nicky angewiesen. Sie gehorchte und wandte sich an den Mann, als er den Wagen erreicht hatte:

“Wie geht es Ihnen?”

“Danke, gut. Und Ihnen?”

“Mir geht es ebenfalls gut. Ich möchte Sie etwas fragen.”

“Yes, Ma’am.”

“Warum helfen Sie denn der Frau nicht beim Tragen?”

Die runden Augen blickten verständnislos.
Inzwischen war auch die junge Frau nähergekommen.
“Ich meine - warum muß sie denn alles alleine tragen? Das Holz und Gepäck, das Kind!”

“Ich bin ein Mann. Sie ist  eine Frau.  Es ist richtig, daß sie dies alles trägt!"

Nun befand sich Nicky in einer Zwickmühle. Aus Erfahrung wußte sie:  Erklärungen waren zwecklos.  Aber sie kannte auch ihre Freunde. Mit dieser Antwort des Alten würden sie sich nie und nimmer zufrieden geben.

Das Paar entfernte sich - ohne Hast, und in der gewohnten Reihenfolge.  Spielerisch schwang der “Herr” sein Stöckchen. “So geht das nicht!” rief eine Stimme aus dem Wageninnern. “Er soll gefälligst auch etwas tragen!” Und eine andere: “Nun erzähl’ schon. Was hat er denn gesagt?”

Nicky drehte sich zu ihren Gästen um:  “Es gibt Löwen in dieser Gegend”, sagte sie mit ernster Miene. “Er muß vorangehen, damit er die Frau notfalls verteidigen kann!”

Als man kurz danach die beiden Fußgänger wieder überholte, da war es  still im Wagen...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen